Fritz Kahn mit seinen Eltern, Berlin, ca. 1914

Fritz Kahn mit seinen Eltern, Berlin, ca. 1914

Das Leben des Menschen III, Stuttgart 1927 (2. Auflage)

Das Leben des Menschen III, Stuttgart 1927 (zweite Auflage)

Fritz Kahn bei seiner endgültigen Rückkehr nach Europa, 1956

Fritz Kahn bei seiner endgültigen Rückkehr nach Europa, 1956

Fritz Kahn, Munkerup, 1967

Fritz Kahn, Munkerup, 1967

Fritz Kahn:
verehrt, verjagt, vergessen – und wiederentdeckt

Fritz Kahn (1888–1968) war ein Berliner Arzt und populärwissenschaftlicher Autor, der Bau und Funktionsweise des menschlichen Körpers auf einzigartige Weise veranschaulichte. Sein Hauptwerk „Das Leben des Menschen“ (1922–1931) begeisterte nicht nur Laien, sondern auch Wissenschaftler durch seine visuellen Analogien und Metaphern, die außergewöhnlich ausdrucksstark und zeitgemäß gestaltet waren. 

Um die Neugier seiner Leser auf naturwissenschaftliche und anthropologische Themen zu wecken, versuchte Kahn, inhaltlich und gestalterisch gleichermaßen auf der Höhe seiner Zeit zu sein. Der überwiegende, eher konventionell gestaltete Teil der Illustrationen entstand nach seinen Vorgaben in der Grafikabteilung des Verlags. Bei den komplexeren Bildern arbeitete Kahn mit freischaffenden Malern, Architekten und Grafikern zusammen, die seine Ideen stilistisch sehr vielfältig umsetzten. Ein berühmtes Beispiel ist das fast lebensgroße Plakat „Der Mensch als Industriepalast“ (1926). Diese konzeptuelle Art der Illustration wurde zu Kahns Markenzeichen und gilt heute als Pionierleistung des Informationsdesigns.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste Fritz Kahn Deutschland verlassen, seine Werke wurden verboten und verbrannt. Er emigrierte nach Palästina, später in die USA, und publizierte in einem Schweizer Verlag weiterhin erfolgreich zu naturwissenschaftlichen Themen. Obwohl sich Kreative in aller Welt von Kahns Visualisierungen inspirieren ließen, musste er selbst nach Kriegsende gestalterischen Vorgaben folgen, und so geriet sein Name langsam in Vergessenheit. Inzwischen zeigen u. a. tausende Links im Internet, vielfältige gestalterische Zitate und zunehmende Erwähnungen in der Forschungsliteratur ein neu erwachtes Interesse an seinen Visualisierungen. 

Fritz Kahn wieder sichtbar und sein innovatives Werk als lebendigen Teil der modernen Kulturgeschichte begreifbar zu machen, ist das Ziel dieser Website und des monografischen Bildbandes „Fritz Kahn“.
 

Grenzgänger zwischen den Welten:
Kurzbiografie Fritz Kahn

Erste Eindrücke: Halle – Hoboken – New York City
Fritz Kahn wird am 29. September 1888 in Halle geboren. Wie sein Vater, der Arzt und Schriftsteller Arthur Kahn, ist Fritz sehr vielseitig begabt und interessiert. Er wächst in jüdisch-orthodoxer Tradition und mit einer humanistischen Bildung auf. Die Familie wandert in die USA aus, kehrt aber drei Jahre später nach Deutschland zurück.

Endlich ein Zuhause: Hamburg – Halle – Bonn – Berlin
Nach mehreren Ortswechseln lässt sich die Familie Kahn in Berlin-Charlottenburg nieder. Fritz studiert Medizin und verschiedene Natur- und Geisteswissenschaften, spezialisiert sich schließlich auf Gynäkologie. Nebenbei schreibt er populärwissenschaftliche Artikel für überregionale Zeitungen.

An der Front: Elsass – Vogesen – Norditalien
Während des ersten Weltkriegs dient Fritz Kahn als Sanitätsarzt. In seiner Freizeit verfasst er sein erstes, enorm erfolgreiches Buch „Die Milchstraße“. Nach Kriegsende ist er so krank und unterernährt, dass er zur Erholung nach Algerien geschickt wird.

Ruhm und Verfolgung: Berlin
Zurück in Berlin arbeitet Kahn als Chirurg und Geburtshelfer an einem Krankenhaus und gründet eine Familie. Er veröffentlicht die Erfolgstitel „Die Zelle“ und „Die Juden als Rasse und Kulturvolk“, durch die fünfbändige Buchreihe „Das Leben des Menschen“ wird er zum gefeierten Bestsellerautor. Im zunehmend antisemitischen Klima der 1920er Jahre gründet Kahn eine jüdisch-humanistische Loge und übernimmt den Vorsitz der Jüdischen Altershilfe. Weil er die Werte der Aufklärung vertritt, wird der überzeugte Pazifist bereits 1933 aus Deutschland ausgewiesen. Seine Bücher werden von den Nationalsozialisten verbrannt, beschlagnahmt und auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ gesetzt.

Auf der Flucht: Jerusalem – Neuilly-sur-Seine – Bordeaux – Lissabon
Fritz Kahn emigriert nach Palästina, später zieht er mit seiner zweiten Frau nach Neuilly-sur-Seine. Ein Verlag in der Schweiz ermöglicht ihm, weiter erfolgreich zu publizieren, und veröffentlicht 1937 Kahns international erfolgreichstes Buch „Unser Geschlechtsleben“. Wenig später erscheinen zwei Neufassungen von „Das Leben des Menschen“: In Deutschland werden Kahns Illustrationen für eine Zusammenfassung mit rassistischem Zusatzkapitel missbraucht und in der Schweiz veröffentlicht Kahn seine eigene Überarbeitung „Der Mensch gesund und krank“ mit zahlreichen neuen Illustrationen. Nach der Besetzung Frankreichs flieht Kahn nach Bordeaux und wird kurze Zeit später interniert. Über Portugal kann er 1941 mit Hilfe seines Freundes Albert Einstein und des Emergency Rescue Committees in die USA entkommen.

Im Exil: New York City
Die amerikanischen Übersetzungen “The Cell”, “Our Sex Life” und vor allem “Man in Structure and Function” erleichtern Fritz Kahn zunächst den Neuanfang in den USA. In der Nachkriegszeit kann er dort jedoch aus politischen und kulturellen Gründen keine neuen Bücher veröffentlichen, seine Erfolgstitel „Das Atom“ und „Das Buch der Natur“ erscheinen in der Schweiz (kombinierte US-Ausgabe „Design of the Universe“).

Zurück in Europa: Ascona, Lugano – Munkerup – Locarno
1956 kehrt Fritz Kahn mit seiner neuen Lebensgefährtin nach Europa zurück und lässt sich in der Schweiz nieder. Hier verfasst er unter anderem den Eheratgeber „Muss Liebe blind sein?“. Nachdem er 1960 in Marokko ein schweres Erdbeben überlebt hat, wohnt und arbeitet Kahn in Dänemark. Er entwickelt stetig neue Projekte, kann aber außer „The Human Body“ („Der menschliche Körper“), das 1965 als moderner Bildband in den USA erscheint, nichts mehr veröffentlichen. Mit 79 Jahren reist der inzwischen schwer kranke Autor zum Überwintern ins Tessin. Am 14. Januar 1968 stirbt Fritz Kahn in einer Kurklinik in Locarno, seine Asche wird im Lago Maggiore verstreut.